Neuroleptika – Wie können sie die Recovery fördern?

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  • Dieses Thema hat 70 Antworten und 12 Teilnehmer, und wurde zuletzt aktualisiert vor 1 Jahr, 7 Monate von Anonym.
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  • #234774

    Ich lese hier in diesem Thema allerdings sehr viel Meinung.

    Deine Anmerkung @rebus im o.g. Thread nehme ich zum Anlass, mich über den Stand der Forschung zu belesen, inwieweit Neuroleptika den individuellen Prozess der Wiedergesundung fördern können.

    Als Erstes möchte ich die Zusammenfassung aus dem Review-Paper von 2004 von Herrn Robert Whitaker zitieren. Er ist der Gründer von Mad in America:
    https://www.madinamerica.com/author/rwhitaker/

    Mit DeepL aus dem Englischen übersetzt:

    Die Argumente gegen Antipsychotika: 50 Jahre lang mehr Schaden als Nutzen
    Robert Whitaker

    Medical Hypotheses (2004) 62, 5–13
    https://doi.org/10.1016/S0306-9877(03)00293-7

    Zusammenfassung
    Die Geschichte der Medizin ist voll von Beispielen für Therapien, die eine Zeit lang eifrig angenommen und später als schädlich verworfen wurden. Eine wissenschaftliche Untersuchung der Beweise soll uns heute vor solchen Torheiten bewahren. Und tatsächlich hat die Wissenschaft Forschungsdaten zur Verfügung gestellt, an denen sich die Verschreibungspraxis orientieren kann. Die Erkenntnisse zeigen durchweg, dass die Beibehaltung der Einnahme von Antipsychotika bei allen Schizophrenie-Patienten zu schlechten langfristigen Ergebnissen führt und dass es eine große Gruppe von Patienten gibt – mindestens 40 % aller Patienten mit dieser Diagnose -, denen es besser gehen würde, wenn sie nie mit Neuroleptika in Berührung kämen oder alternativ dazu ermutigt würden, die Medikamente schrittweise abzusetzen. (Der Prozentsatz der Patienten, bei denen eine schizoaffektive Störung oder eine mildere Form der Psychose diagnostiziert wurde und die ohne diese Medikamente gut zurechtkommen würden, ist zweifellos viel höher).

    Auch diese Schlussfolgerung ist nicht neu. Vor fast 25 Jahren veröffentlichte Jonathan Cole, einer der Pioniere auf dem Gebiet der Psychopharmakologie, eine Arbeit mit dem provokanten Titel “Antipsychotische Erhaltungstherapie: Ist die Heilung schlimmer als die Krankheit?”. Nach einer Überprüfung der Forschungsdaten kam er zu dem Schluss, dass “ein Versuch unternommen werden sollte, um die Durchführbarkeit des Absetzens des Medikaments bei jedem Patienten zu bestimmen” [17]. Die Erkenntnisse sprechen für eine Standardbehandlung, die einen schrittweisen Entzug beinhaltet. Die Forschungsergebnisse zu Neuroleptika seit dieser Zeit – insbesondere die WHO-Studien und die MRT-Studie von Forschern der University of Pennsylvania – bestätigen die Weisheit seines Rates.

    In der Tat zeigt Hardings Langzeitstudie, dass der schrittweise Entzug ein wesentlicher Schritt auf dem Weg zur vollständigen Genesung ist. Sie fand heraus, dass ein Drittel der Schizophreniepatienten, die in den 1950er Jahren auf den hinteren Stationen eines staatlichen Krankenhauses in Vermont behandelt wurden, dreißig Jahre später vollständig genesen waren, und dass diese Gruppe ein gemeinsames Merkmal aufwies: Alle hatten die Einnahme von Neuroleptika längst eingestellt [51]. Sie kam zu dem Schluss, dass es ein “Mythos” ist, dass Patienten ihr ganzes Leben lang Medikamente einnehmen müssen, und dass “in Wirklichkeit vielleicht nur ein kleiner Prozentsatz unbegrenzt Medikamente benötigt” [52].

    Trotz all dieser Beweise gibt es heute in der Psychiatrie fast keine Diskussion über die Einführung von Praktiken, die den selektiven Einsatz von Neuroleptika beinhalten und den schrittweisen Entzug in die Standardversorgung integrieren würden. Stattdessen bewegt sich die Psychiatrie in die entgegengesetzte Richtung und verschreibt Antipsychotika an eine immer größere Patientenpopulation, einschließlich derjenigen, die lediglich als “gefährdet” gelten, eine Schizophrenie zu entwickeln. Diese Ausweitung des Einsatzes von Antipsychotika dient zwar offensichtlichen finanziellen Interessen, ist aber eine Behandlung, die mit Sicherheit vielen schadet.

    #234783

    Wie erklärst Du Dir dann die guten Heilungserfolge außerhalb der industriellen Gesellschaften?

    Um mehr Bezug zum o.g. Thread zu nehmen: Herr Whitaker geht im o.g. Paper u.a. auf die WHO-Studien von 1969 ein (mit DeepL aus dem Englischen übersetzt):

    Die Studien der Weltgesundheitsorganisation

    1969 initiierte die Weltgesundheitsorganisation eine Studie, um die Ergebnisse der Schizophrenie in “entwickelten” Ländern mit denen in “unterentwickelten” Ländern zu vergleichen. Auch hier waren die Ergebnisse überraschend. Den Patienten in den drei armen Ländern – Indien, Nigeria und Kolumbien – ging es bei den Nachuntersuchungen nach zwei und fünf Jahren dramatisch besser als den Patienten in den USA und vier anderen entwickelten Ländern. Es war wahrscheinlicher, dass sie sich vollständig erholten und in der Gesellschaft gut zurechtkamen – “ein außergewöhnlich gutes soziales Ergebnis für diese Patienten”, schrieben die WHO-Forscher – und nur eine kleine Minderheit war chronisch krank geworden. Nach fünf Jahren waren etwa 64 % der Patienten in den armen Ländern symptomfrei und funktionierten gut. Im Gegensatz dazu gehörten nur 18 % der Patienten in den reichen Ländern zu dieser Kategorie mit den besten Ergebnissen. Der Unterschied in den Ergebnissen war so groß, dass die WHO-Forscher zu dem Schluss kamen, dass das Leben in einem Industrieland ein “starker Prädiktor” dafür ist, dass sich ein schizophrener Patient nie vollständig erholen wird [26].

    Diese Ergebnisse waren für die Psychiater in den USA und anderen reichen Ländern natürlich ein Schock. Angesichts dieser enttäuschenden Ergebnisse argumentierten viele, die WHO-Studie sei fehlerhaft und ein Teil der Patienten in den armen Ländern sei nicht schizophren, sondern an einer milderen Form der Psychose erkrankt. Vor dem Hintergrund dieser Kritik führte die WHO eine Studie durch, in der die Ergebnisse von zwei Jahren in zehn Ländern verglichen wurden, wobei sich die Studie auf Schizophrene mit einer ersten Episode konzentrierte, die nach westlichen Kriterien diagnostiziert wurden. Die Ergebnisse waren die gleichen. “Der Befund, dass die Patienten in den Entwicklungsländern besser abschneiden, hat sich bestätigt”, schreiben die WHO-Forscher. In den armen Ländern hatten 63 % der Schizophrenen einen guten Ausgang. Nur etwas mehr als ein Drittel wurde chronisch krank. In den reichen Ländern war das Verhältnis von guten zu schlechten Ergebnissen fast genau umgekehrt. Nur 37 % der Patienten hatten einen guten Ausgang, und den restlichen Patienten erging es nicht so gut [27].

    Die WHO-Forscher konnten keine Ursache für die krassen Unterschiede in den Ergebnissen ausmachen. Sie stellten jedoch fest, dass es einen Unterschied in der medizinischen Versorgung gab. Die Ärzte in den armen Ländern verabreichten ihren Patienten im Allgemeinen keine Neuroleptika, während die Ärzte in den reichen Ländern dies taten. In den armen Ländern wurden nur 16 % der Patienten weiterhin mit Neuroleptika behandelt. In den Industrieländern wurden 61 % der Patienten mit solchen Medikamenten behandelt.

    Auch hier zeigen die Forschungsergebnisse das gleiche Bild. In den WHO-Studien gab es einen Zusammenhang zwischen der kontinuierlichen Einnahme von Medikamenten und schlechten Langzeitresultaten.

    #234786

    1969, aha

    #234791

    Was mich persönlich immer wieder in letzter Zeit wundert, ist dass so viel über die schädlichen Seiten von Neuroleptika schon immer bekannt war und ich als Schizophrenie-Betroffene seit 12 Jahren diese Informationen sehr mühsam und auf Eigeninitiative sammeln musste, mit Erfahrungen am eigenen Körper.

    Seit den 50ern Jahren schon, als die ersten Neuroleptika auf den Markt kamen, gab es Profis, die darauf hingewiesen haben, dass Neuroleptika die nachhaltige Genesung von Psychose- und Stressanfälligkeit verhindern können.

    Warum wurde ich von keinem Profi bis heute darüber aufgeklärt? Ich habe den Verdacht, dass die meisten Profis

    „An welcher Hochschule haben sie studiert“?

    dieses Wissen nicht angeeignet haben, wahrscheinlich weil die finanziellen Interessen der Pharmafirmen und andere Interessen (edit: als das Wohlbefinden und die Lebensqualität der Betroffenen) von bestmmten Entscheidungsträgern immer noch zu groß sind :unsure:

    • Diese Antwort wurde geändert vor 1 Jahr, 7 Monate von Mowa.
    • Diese Antwort wurde geändert vor 1 Jahr, 7 Monate von Mowa.
    #234794

    1969, aha

    PlanB, ich habe schon oft festgestellt, dass gute Forschung zeitlos ist ;-)

    Wie groß die Relevanz der WHO-Studien von 1969 heute noch ist, mehr als 50 Jahre später, das kann ich nicht nicht einschätzen, weil ich mich zum Thema noch nicht belesen habe.

    Ich weiß, dass Mad in America kritisch ist und tatsächlich oder vermeintlich schlechte Praxen der Psychiatrie offen hinterfragt. Für mich ist sie eine vertrauenswürdige Quelle.

    #234803
    Anonym

      Interessant,  ich denke aber das die Neuroleptika nur ein Anteil sind.  Da gibt es sicherlich viele andere Faktoren.

      #234849

      Oh. Also der WHO Studie von 1969 mag ich Glauben schenken und sehe das auch so wie @mowa, dass das zeitlos ist.

      Bei meiner Krankheitsgeschichte kann ich mir einen guten Verlauf ohne Medikamentengabe nicht vorstellen. Ich glaube ich hätte heute noch den Kopf voll Stimmen.

      Gründe dafür wären interessant, jedoch kann ich leider keine ausmachen.


      Waypoint reached … Autopilot disabled

      #234858

      Das wundert mich nicht mit den unterentwickelten Ländern. Es ist eine Frage des Anspruchs an das Leben. Wenn man zufrieden ist mit einem Dach über den Kopf und “nur” genügend essen hat, dann ist das was anderes wie in den Industrienationen, wo man solche Ansprüche als selbstverständlich ansieht. Man müsste die Studie in die heutige Zeit katapultieren, wo nicht das neueste Neuroleptikum Fluanxol ist, sondern Atypika. Da wäre glaube ich die WHO Studie noch eindrücklicher und würde auch in die heutige Zeit passen und da werden andere Ergebnisse da!

      Es ist klar, dass der Turbokapitalismus daran Schuld ist und das macht es krank. Das Funktionieren müssen. Der ewige Trieb nach Selbsterfüllung und nicht zuletzt auch sich zu vergleichen mit Eliten. Das ist glaube ich der wahre Killer und nicht die Industrienation an sich!

      #234902
      Anonym

        Aha, hier gibts einen Abzweiger !

        Bitte nicht die Neuroleptika der 50er und 60er Jahre mit Neuroleptika der 90er und später vergleichen ! Das sind wirklich zwei verschiedene paar Schuhe ! In meinen ersten 20 Jahren habe ich alle paar Jahre meine Neuroleptika “mit meinem Therapeuten” kurz abgesetzt um zu kontrollieren und es stellte sich immer wieder heraus, dass meine Psychose noch voll da ist (ohne Neuroleptika) !

        Ein Ausheilen der Erkrankung kann ich mir nur mit massiver Sozialbetreuung vorstellen und dass ist in Europa nicht leistbar ! Ich möchte hier jeden warnen selbständig herum zu experimentieren ! Neuroleptika sind zwar “kacke”, doch ohne sie geht derzeit gar nichts !

        Weiters geht es natürlich um Erklärungsmuster die nur in der eigenen Kultur tragfähig sind. Also christlich sozialisierte sollten dabei bleiben und irgendwohin zu reisen oder die Kultur zu wechseln funktioniert nicht. Schaut mal das Buch von Dorothea Buck “Auf der Suche nach dem Morgenstern” an, die bekam ihre ersten Psychosen vor den Neuroleptika, wurde von den Nazis sterilisiert und heilte sich dann aber auch ohne Neuroleptika !

        #234914

        Bitte nicht die Neuroleptika der 50er und 60er Jahre mit Neuroleptika der 90er und später vergleichen ! Das sind wirklich zwei verschiedene paar Schuhe !

        Du meinst die neueren NL sind besser als die alten?

        #234917

        Es ist eine Frage des Anspruchs an das Leben. Wenn man zufrieden ist mit einem Dach über den Kopf und „nur“ genügend essen hat, dann ist das was anderes wie in den Industrienationen, wo man solche Ansprüche als selbstverständlich ansieht

        So eine verklärte Sicht auf ein 3te Welt Land, kann auch nur von jemandem aus einem übersättigtem Wohlstandsland kommen, der sich um nix kümmern muss.
        Als ob Menschen die nichts zu essen haben und keinen Zugang zu fließendem Wasser zufriedener wären.

        Hier kannst du dir ganz viele glückliche Menschen anschauen

        #234919

        Nein @planb. So habe ich das nicht gemeint! Ich bin ganz normal erzogen worden und ich kümmere mich um genug mein lieber. Ich habe ja das “nur” extra in Anführungszeichen geschrieben. Ich weiß dass der Hunger groß ist! Ich habe ja den Kapitalismus auch indirekt verurteilt!

        aus einem übersättigtem Wohlstandsland kommen, der sich um nix kümmern muss.

        Ich beziehe Grundsicherung. Ich bin in Deutschland arm! Aber trotzdem bin ich der Meinung, dass wenn die Ansprüche niedriger sind, dass man dann glücklicher ist und dass man mit Krankheiten wie Schizophrenie bessere Heilung erwarten kann!

        #234920
        Anonym

          A-typische Neuroleptika haben definitiv weniger Nebenwirkungen – sowohl bei Direkteinnahme wie auch bezüglich Spätfolgen.

          So paradox es klingen mag der “Lebensstandard” (Wasser, Esssen, Dach über den Kopf bis Lift ins eigene Penthouse) hängt nicht immer mit der “Lebensqualität” (Glücksempfindungen, Zufriedenheit, Ausgeglichenheit etc.) zusammen. Meistens sind Menschen in ärmlichen Verhältnissen glücklicher als Menschen im goldenen Käfig und auch hier bedingt sich viel durch das Soziale Umfeld.

          Schaut Euch Hollywoodstars einmal genauer an und dazu einfache Bauern im Nirgendwo !?

          #234922

          Danke @Ludwig. Das wollte ich rüberbringen. Dass die Not groß ist, weiß ich selber!

          #234926

          Hier kannst du dir ganz viele glückliche Menschen anschauen

          Ich habs angeschaut @planb. Es ist natürlich ein krasses Beispiel. Genauso krass wäre es, wenn ich den Stadtteil Manhattan in New York als Beispiel für Industrieländer nehme!

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