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Mowa aktualisiert.
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23/01/2023 um 4:01 Uhr #264237
Guten Morgen zusammen
Danke für Eure Feedbacks, und es tut mir leid, dass ich mich offenbar hier missverständlich ausgedrückt habe:
Ja, und das ist der Punkt, den ich auch hier im Forum deutlich machen möchte: Es gibt die wichtige Unterscheidung zwischen Absetzsymptomen und Stress- und Psychoseanfälligkeit.
Absetzsymptome kann man in den Griff bekommen, so wie Du beschrieben hast, indem man die Reduktionsschritte ausreichend klein wählt und für eine vorübergehende stabile Phase sorgt.
Die Anfälligkeit für Stress und Psychosen hingegen nicht! Diese kann nur unter belastendem Dauerstress getestet werden und nicht, wenn man stressarm lebt. Daher reicht es nicht aus, in einem begrenzten Zeitraum stressarm und stabil geblieben zu sein.
Ich wollte mit den obigen Sätzen nicht ausdrücken, dass jede/r Betroffene gleichermaßen Absetzsymptome bekommt und jede/r Betroffene gleichermaßen Anfälligkeit für Stress und Psychosen hat.
Und, ich wollte auch nicht ausdrücken, dass die Anfälligkeit für Stress und Psychosen gar nicht veränderbar ist.
Beides würde allem widersprechen, was ich bis jetzt in diesem neuen Forum gepostet habe!
Was ich verdeutlichen möchte, ist einfach nur, dass Absetzsymptome medikamentös bedingt sind, die Anfälligkeit und Stress und Psychosen hingegen nicht. Ich denke, es ist sehr hilfreich und sehr wichtig, diese beiden Punkte bewusst auseinander zu halten.
Bei Menschen, die unter schweren Traumata und/oder schweren Suchterkrankungen leiden, liegen die Ursachen für ihre Anfälligkeit für Stress und Psychosen viel tiefer als dort, wo sie sich in Form von psychotischen Symptomen äußern.
Ob und inwieweit die individuelle Anfälligkeit für Stress und Psychosen durch nichtmedikamentöse Therapiemethoden abgebaut und die Resilienz an ihrer Stelle aufgebaut werden kann, das hängt sicher von ihren individuellen Ursachen, von der individuellen Ausprägung der Erkrankung, von den individuellen Lebensumständen der Betroffenen, von der individuellen Verfügbarkeit von nichtmedikamentösen Therapiemethoden usw. ab.
Dafür, dass nichtmedikamentöse Therapiemethoden verfügbarer werden und weniger Psychopharmaka eingesetzt werden, setze ich mich ein. Mein Erfahrungsbericht ist ein Teil davon:
https://schizophrenie-online.com/forums/Thema/notizen-von-mowa-teil-2/page/104/#post-25918023/01/2023 um 4:18 Uhr #264244Hab ich alles gemacht. Wenn wir es übermorgen probieren könnten, wäre mir gedient.
Übrigens @sartorius, suche Dir bitte woanders nach Hilfe. Ich werde Dir nicht mehr helfen
24/01/2023 um 4:34 Uhr #264372wieso sollte ich mich mit den Medikamenten nicht richtig spüren? Meine Ängste machen mich ja handlungsunfähig, nicht das Amisulprid
Ich glaube, Molly und Dopplereffekt, die Erfahrung, dass Neuroleptika „sich selbst nicht richtig spüren lassen“, kann man am ehesten machen, wenn man die Neuroleptika ganz abgesetzt hat und eine bestimmte Zeit lang symptomfrei geblieben ist.
Die Wirkung des Absetzens besteht für mich darin, dass ich gedanklich und emotional beweglicher wurde, Informationen leichter und mehr miteinander verknüpfen und verstehen konnte und in Folge auch den natürlichen Antrieb wiederherstellen konnte.
Indem ich die Probleme, die in meinem Menschenleben unweigerlich auftreten, erkenne und daran arbeite, baut sich schrittweise Resilienz auf und werde dadurch immer stabiler und gesünder.
Seit ich meine niedrigstmögliche Dosis von 1 mg Aripiprazol seit drei Jahren und zwei Monaten einnehme, habe ich außerdem festgestellt, dass sich das Gehirn über Jahre hinweg erholt und sich die Vernetzung im Gehirn und mit meiner Umwelt weiter verbessert.
Damit das Gehirn seine natürliche Gesundheit wiederherstellen kann, sind Stabilität auf einer Seite und eine Minimierung der Psychopharmakadosis bis hin zum völligen Verzicht auf Psychopharmaka auf der anderen Seite gleichermaßen hilfreich.
Das heißt, es ist weder hilfreich, sehr stabil zu sein weil ich zu viel Psychopharmaka einnehme (zugeschüttetes Ich), noch sehr labil zu sein weil ich keine Psychopharmaka einnehme (kränkelndes Ich), denn in beiden Fällen sind meine Urteils- und Handlungsfähigkeit beeinträchtigt.
Weil die Ursachen und die Ausprägung für die Stress- und Psychoseanfälligkeit so individuell sind wie wir selbst, sollte jede/r Betroffene selbst entscheiden können, wie viel medikamentösen Schutz sie/er in welcher Lebenssituation benötigt und wie viel vom Lebensabschnitt sie/er nichtmedikamentös bewältigen will und kann.
Ich hoffe, dass immer mehr Ärzt:innen und Therapeut:innen diese Sicht mit mir teilen und ihre Behandlungsmethoden überdenken, wenn sie zuvor pauschal auf die medikamentöse „Behandlung“ von Menschen mit Schizophreniediagnose gesetzt haben.
Letztes Jahr hatte ich diesen Auszug aus der Homepage von Herrn Lehmann zitiert:
»(…) Wir sind uns aber klar darüber, dass das Mittel die gesamte und nicht nur die krankhafte Affektivität dämpft. Eine solch umfassende Dämpfung könnte vielleicht auch diejenigen Impulse erfassen, die Selbstheilungstendenzen entspringen. Einzelne freilich unkontrollierbare Eindrücke bei akut Erkrankten ließen uns sogar die Frage aufwerfen, ob nicht unter der medikamentösen Apathisierung eine Stagnation der psychotischen Entwicklung auftreten kann, die nicht bloß das Rezividieren (Wiederauftreten), sondern auch das Remittieren (Rückbilden) betrifft.« (1954, S. 588)
Quelle: https://antipsychiatrieverlag.de/artikel/gesundheit/rez-ver.htm
Die Quellenangabe fehlt auf der Homepage, und wenn ich sie richtig gesehen habe, dann lautet sie:
Ernst, K. (1954). Psychopathologische Wirkungen des Phenothiazinderivates »Largactil« (= »Megaphen«) im Selbstversuch und bei Kranken. Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten, 192, 573–590Leider habe ich keinen Zugang zu diesem Bericht von Herrn Ernst, sonst hätte ich ihn gerne gelesen!
Herr Ernst berichtet 1954 über seine persönlichen Erfahrungen mit der Wirkung des Neuroleptikums Chlorpromazin, nachdem er das Psychopharmakon als gesunder Arzt systematisch an sich selbst getestet hat.
Es wundert mich nicht, dass ich als schizophren diagnostizierter Mensch, der seit sechseinhalb Jahren systematische Selbstversuche durchführt, zu den gleichen Beobachtungen komme. Tatsächlich hätte ich ihm unmittelbar nach meinem ersten Absetzversuch im Jahr 2016 zugestimmt, wenn ich damals diesen Auszug aus dem Bericht von Herrn Ernst gelesen hätte.
Damit möchte ich auch sagen, dass wir natürlich individuell sind, wie wir immer wieder feststellen, aber ich beobachte auch hier im Forum, dass es häufig Erfahrungen gibt, die unter den Betroffenen geteilt werden.
Ich bin davon überzeugt, dass ein systematisch durchgeführter Selbstversuch eines Einzelnen mindestens so aussagekräftig sein kann wie das Durcheinander von Erfahrungen vieler Betroffener, die sich noch nicht systematisch beobachtet haben.
24/01/2023 um 4:49 Uhr #26437424/01/2023 um 7:04 Uhr #264378Danke @sartorius. Du hast viel Gewalt durch die Angehörigen und Ärzte erfahren, das ist großes Pech.
25/01/2023 um 7:07 Uhr #264559Danke Molly für Deine ausführliche Rückmeldung
Dann werden die Stimmen wieder sehr intensiv und meine emotionale Situation kippt ins Angstbesetzte und Depressive.
Ich stelle mir vor, dass es extrem belastend ist, wenn einer bzw. einem Betroffenen die akustischen Halluzinationen in Form von menschlichen Stimmen dauerhaft begleiten. Weil ich selbst nicht davon betroffen bin, weiß ich nicht, ob und wie sie behandelt werden können
In den letzten Jahren habe ich aber viel davon überwunden.
Das finde ich richtig gut, dass Du vieles in den letzten Jahren überwinden konntest.
Resilienz entsteht für mich nicht unbedingt dadurch, dass man sich Ziele setzt und sie erreicht, sondern in erster Linie dadurch, dass man lernt, mit Problemen auf gesündere Weise umzugehen. Daher kann jeder Mensch resilienter werden, meiner Meinung nach.
Allerdings bin ich pahmakologisch nicht so fit, dass ich alleine sagen könnte, was für mich am besten ist und wie hoch die wirksame Dosis eines neuen Medikamentes für mich ist. In der Hinsicht will ich mich dann lieber auf den Psychiater verlassen.
Ahnung von Pharmakologie habe ich selbst kaum, und meiner Erfahrung nach ist das auch nicht nötig.
Für mich war es entscheidend, mir kognitive Fähigkeiten anzueignen, damit ich mir bewusst werden konnte, wie es mir ging und ob ich psychotisch war, sozusagen auf Knopfdruck.
Inzwischen werde ich mich nicht mehr freiwillig auf Psychiater:innen verlassen, nur weil sie auf dem Papier dazu qualifiziert sind. Dafür bin ich eine zu große und selbstständige Expertin für mich selbst.
Wenn mein jetziger Psychiater in Rente geht (er ist bestimmt längst im Rentenalter), dann werde ich solange nach einem bzw. einer Psychiater:in suchen, der bzw. die mich versteht und auch umgekehrt, d.h. den bzw. die ich verstehe.
aber inzwischen, wo ich alleine auf mich gestellt bin, muss ich schauen, dass ich ohne Rezidive durchkomme.
Ja, das verstehe ich!
Deshalb wäre es so hilfreich, wenn Psychiater:innen und Psychiatrien die Betroffenen aktiv dabei unterstützen würden, ihre Medikation zu reduzieren oder sogar abzusetzen, wenn sie dies wünschen und es ihren individuellen Möglichkeiten entspricht. Gleichzeitig müssten mehr nichtmedikamentöse Therapien zur Verfügung gestellt werden, so dass die Betroffenen nicht auf sich allein gestellt sind.
Meiner Beobachtung nach werden bis heute viel zu viele Psychopharmaka verabreicht, und es gibt noch sehr viel Luft nach oben, wenn es darum geht, Schizophreniebetroffenen nichtmedikamentös zu behandeln.
25/01/2023 um 7:25 Uhr #264561
Diesen Avatar hat mein Mann gestern für mich generiert, nachdem er keine neue Folge South Park mit mir gucken wollte: https://www.southpark.de/info/lv0nha/avatarIrgendwie gefällt mir gut, der Avatar
25/01/2023 um 8:09 Uhr #264565Aber Stimmen kommen von irgendwo her und sind nicht in Dir. Wenn dieses Stimmen übles Zeug reden, dann helfen dämpfende Medikamente zwar vielleicht, dass du sie nicht mehr hörst, machen Dich aber auch gleichzeitig krank. Wir alles wissen: ohne geht es einem erst einmal sehr gut, bis dann eventuell die Stimmen wieder kommen. Mein Lösung ist: sollen die Stimmen doch sagen was sie wollen, ich weiß dass ich gut bin und kein bisschen wahnsinnig oder sonst was, was sich irgendwelche Spinner von Psychiatern ausdenken.
Ich denke, wenn ich Stimmen hören würde, würde ich zuerst mir bewusst machen, dass sie eines der möglichen psychotischen Symptome sind, und erst dann würde ich mich von ihnen abgrenzen: Es sind nur Stimmen, sie können mir nicht schaden. Sollen sie doch sagen, was sie wollen.
Das wäre ein ähnlicher Umgang mit Wahn. Ich mache mir das Symptom bewusst, dass es krankhaft ist, und grenze mich von ihm ab. Wann immer die Symptome auftreten, wiederhole ich die Übung, und bei Wahn ist es bei mir so, dass er sich tatsächlich zurückbildet.
Wenn Stimmenhörer:innen sich nur auf ihre Stimmen einlassen und Wahnsymptome entwickeln können, dann klingt es, als sei es technisch gar nicht möglich, eine solche kognitive Übung durchzuführen, wie ich sie praktiziere.
Ich finde Deinen Beitrag deshalb sehr spannend sartorius, weil Du berichtest, dass Du Dich sehr wohl von Deinen Stimmen abgrenzen kannst. Was ich nicht verstehe, ist, warum es für Dich schlimm ist, die Stimmen als eine Halluzination, d.h. als ein psychotisches Symptom anzuerkennen.
25/01/2023 um 8:48 Uhr #264571Mensch, ich verstehe Dich @sartorius. Das ist so traurig!
25/01/2023 um 17:19 Uhr #264623Seit vorgestern schreibe ich einen Text, den ich als persönliche Geschichte bei Mad in America einreichen möchte. Im Grunde ist es eine Zusammenfassung dessen, was ich bereits hier und da im Forum gepostet habe.
2021 wollte ich auch schon einen Text einreichen, nur war ich damals noch nicht so fit und hatte beschlossen mir mehr Zeit zu geben:
Ich möchte das Gespräch mit meinem Psychiater in meinem letzten Post und diese Version des Fotos bei
madinamerica.com/…
einreichen.Mal schauen. Es ist ja ein erster Entwurf, und ich bin noch unsicher. Später werde ich meinen Mann bitten ihn Korrektur zu lesen. Im neuen Jahr kann ich auch meinen Kollegen bitten, den Text ins Englische zu übersetzen.
OK – beim letzten Editieren des o.g. Posts vom 29.12.2022 habe ich leider einen Fehler gemacht, so dass der Post von der Forensoftware verschluckt wurde und nicht mehr aufrufbar ist.
Daher poste ich den Entwurf meines Erfahrungsberichts hier nochmal frisch…
Gemeinsam leben – mit mehr Resilienz und weniger Psychopharmaka
Mowa
Englischübersetzung von J. W.Stand: 26.01.2023 um 06:50 Uhr
1768 WörterNatürlich kann jeder Mensch resilienter und gesünder werden. Ich kann das auch. Trotz meiner Diagnose Schizophrenie. Es ärgert mich, wenn manche Expert:innen meinen, Schizophrenie sei unheilbar, genetisch bedingt und könne nur mit vielen Neuroleptika und anderen Psychopharmaka behandelt werden, und zwar für den Rest des Lebens. Ich protestiere. Denn meine gelebten Erfahrungen haben mir gezeigt, dass ich durch gezielte Übungen die psychotischen Frühsymptome immer früher und subtiler erkennen und abklingen lassen kann, selbst Wahn! Dies ist meine persönliche Geschichte der Recovery, die ich seit dem Ausbruch meiner ersten psychotischen Episode im Sommer 2010 aktiv gestalte.
Mein Ziel ist, dauerhaft selbstbestimmt und frei von Psychopharmaka zu leben. Seit über drei Jahren nehme ich jetzt meine individuell ermittelte niedrigst mögliche Dosis an Neuroleptika, 1 mg Aripiprazol täglich, ein und werde immer stabiler und lebendiger. Die Lebenszeit, die ich gesund verbringen kann, setze ich gerne ein für mehr Inklusion, Diversität, Gleichstellung und Menschenrechte. Im Jahr 2022 war ich die Gesamtkoordinatorin der Mental Health Awareness Week – ein Gemeinschaftsprojekt der Max-Planck-Gesellschaft (MPG), einer führenden deutschen Forschungsorganisation mit ihren rund 86 Max-Planck-Instituten und Forschungseinrichtungen sowie 24.000 Mitarbeitenden –, die vom 10. Oktober, dem Welttag der psychischen Gesundheit, bis zum 14. Oktober lief (1). Die Online-Veranstaltung bot Vorträge und Workshops zu einer breiten Palette von Themen der psychischen Gesundheit, von der Prävention bis zur Inklusion. Mit bis zu 1900 Teilnehmenden und mehr als 60 unterstützenden Institutionen, sowohl MPG-intern als auch MPG-extern, war die Woche ein großer Erfolg. Daneben bin ich Betriebsratsvorsitzende und Beauftragte für Betriebliches Gesundheitsmanagement am Max-Planck-Institut für medizinische Forschung in Heidelberg, Deutschland, sowie Vorstandsmitglied eines gemeinnützigen Vereins für Geflüchtetenhilfe und Mitglied in einem Inklusionschor. Als Privatperson bin ich Ehefrau, Tochter und Schwester. Es sind vor allem die Menschen, von denen ich umgeben bin und die mich unterstützen, die zu meinem persönlichen Genesungsprozess entscheidend beigetragen haben. Dafür bin ich unfassbar dankbar.
In den ersten sechs Jahren nach meiner Erstdiagnose sah die Realität in meinem Leben noch ganz anders aus. Ich nahm 15 mg Aripiprazol täglich ein, was für die Erhaltungstherapie empfohlen wird (2) und somit das 15-fache meiner derzeitigen niedrigst möglichen Aripiprazoldosis beträgt – trotz schwerwiegender Nebenwirkungen wie Gedanken- und Gefühlslosigkeit, Antriebslosigkeit und mangelndes Sättigungsgefühl (was zu Adipositas führte). Damals erklärten mich die Psychiater:innen für gesund, schließlich war ich frei von Rückfällen und ging einem Vollzeitjob nach. Sie hielten die (Neben-)Wirkungen der Medikamente für Symptome der Schizophrenie. Heute ist mir klar, dass ich damals geradeso meine Selbstständigkeit bewahren konnte, um in der Gesellschaft nicht als problematisch, bedürftig oder bemitleidenswert aufzufallen. Als die Übermedikation mich daran hinderte, Probleme zu erkennen, war es ganz so, als hätte ich keine Probleme, also machte ich auch keine Probleme. So wurde ich zu einem unproblematischen, unsichtbaren Wesen und führte ein Schattendasein am Rande der Gesellschaft.
Dann, als ich 2016 meinen systematischen Selbstversuch startete, so weit wie möglich ohne Psychopharmaka zu leben, gab es von meiner damaligen Psychiaterin keine Unterstützung, im Gegenteil. Selbst eine Reduktion auf 10 mg Aripiprazol täglich wurde misstrauisch beäugt, und ein weiterer Reduktionsschritt wurde mir verwehrt. Bis ich sie nicht mehr aufsuchte und begann, mich aus eigener Kraft in mein Leben zurückzukämpfen. Meine beiden ersten Absetzversuche – in der Zwischenzeit hatte ich endlich einen Psychiater und einen Psychotherapeuten gefunden, die mich und meinen Selbstversuch auf Augenhöhe begleiteten – endeten 2018 bzw. 2019 in der Klinik. Mein Schwerbehindertenstatus wurde daraufhin befristet anerkannt, was mir etwas Schutz im Arbeitsverhältnis gibt und zum Beispiel eine Kündigung geringfügig erschwert. Erst durch diese Erfahrungen mit dem Absetzen konnte ich wissen, wie frei ich von Psychopharmaka sein konnte und wie sich die ersten psychotischen Symptome in mir anbahnten. Nach meinem dritten Absetzversuch begann ich, meine niedrigst mögliche Dosis an Neuroleptika zu ermitteln. Eine Dosis, bei der ich so wenig (Neben-)Wirkungen wie möglich hatte und gleichzeitig stabil blieb. Etwas Besseres konnte mir nicht passieren, und bis heute lerne ich, Veränderungen in meiner Wahrnehmung, meinem Denken, Fühlen und Handeln immer früher und subtiler zu erkennen. Ich lerne, Absetzsymptome von meiner Anfälligkeit für Stress und Psychosen zu unterscheiden. Ich lerne, die schützende Wirkung von Neuroleptika nach und nach durch meine eigene Resilienz zu ersetzen und zu LEBEN – so intensiv wie möglich.
Für mich ist Schizophrenie ein Problem der Informationsverknüpfung: Es gibt zu wenig Informationen im eigenen Gehirn und mit der Umwelt, die auf eine Weise verknüpft sind, die Gesundheit und Lebenswillen fördern. Neuroleptika unterbinden die Verknüpfung von Informationen, unabhängig davon, ob sie gesundheitsfördernd oder krankmachend sind. Gedanken, Gefühle und Handlungen werden wahllos verschüttet und mit ihnen das Wesen der Person, die mit Übermedikation behandelt wird. Ich kann heute kaum glauben, in welch große Urteils- und Handlungsunfähigkeit ich durch Neuroleptika künstlich versetzt wurde. Es war, als wäre ich meinem Ich beraubt und entmenschlicht worden. Dennoch sagten mir meine damaligen Psychiater:innen, dass ich gesund sei und dass die Neuroleptika gut für mich seien. Gut für mich? Oder meinten sie gut für sich selbst, weil ich vorbildlich compliant und damit auch pflegeleicht war?Die große Herausforderung besteht meiner Meinung nach darin, dass diese Tatsache nicht einfach durch ein kollektives abruptes Absetzen von Neuroleptika oder Psychopharmaka gelöst werden kann. Denn weniger Medikamenteneinsatz bedeutet mehr nichtmedikamentöse Interventionen zur Bewältigung von Stress und Psychosen. Mir scheint, dass genau hier die gesamtgesellschaftliche Überforderung in reichen Ländern wie Deutschland beginnt, wo einerseits Psychopharmaka im Überfluss verfügbar sind und andererseits nichtmedikamentöse Therapiemöglichkeiten unzureichend sind. Wenn Schizophreniebetroffene, die mit (zu) vielen Medikamenten behandelt werden, diese wegen der unerträglichen (Neben-)Wirkungen abrupt absetzen, können sie einen schweren Rückfall erleiden. In der Folge werden sie mit noch mehr und noch stärkeren Medikamenten behandelt, was wiederum zum erneuten Absetzen der Medikamente führen kann. Der Teufelskreis aus Übermedikation, Absetzen und Rückfall kann den Betroffenen die Hoffnung auf eine Besserung ihres psychischen Leidens nehmen und endet nicht selten tragisch. Dabei sind bereits nichtmedikamentöse Ansätze bekannt, wie z.B. der Offene Dialog, der auf gegenseitiger Aufmerksamkeit und Wertschätzung aller Beteiligten auf Augenhöhe beruht und sich als erfolgreich erwiesen hat (3). Deshalb ist für mich klar: Es braucht die Bereitschaft der gesamten Gesellschaft, d.h. nicht nur der Betroffenen, sondern auch von Angehörigen, Psychiater:innen und anderen sorgenden Personen, aktiv und systematisch an sich zu arbeiten, einander so gut wie möglich zuzuhören und miteinander zu reden. Ohne diese gemeinsamen Bemühungen um ein soziales Miteinander auf Augenhöhe scheint mir eine Verbesserung oder (Teil-)Heilung der sogenannten Schizophrenie und von psychischen Erkrankungen im Allgemeinen kaum wahrscheinlich.
Resilienter zu werden bedeutet für mich, dass ich die Fragmente meiner Identität, die mir im Laufe meines Lebens abhandengekommen sind, sorgfältig und aufmerksam zu einem intakteren Ich zusammenfüge und dadurch immer besser mich selbst spüre. Was bin ich und warum? Wo ist mein Platz in dieser Welt? Ich blicke zurück auf die vergangenen Zeiten, bis sie sich wieder lebendig und warm anfühlen. Vielleicht nur für den Augenblick, vielleicht immer wieder, möglicherweise auch mein ganzes Leben lang. Ich glaube, dass es heilend und auch lebensnotwendig ist, in diesem Moment des Lebens sich selbst zu spüren und zusammenzuhalten. Eine einfache Übung hilft mir dabei, mit möglichst wenig Psychopharmaka bis heute stabil zu bleiben: (i) Mir bewusst machen, wie es mir geht und warum und (ii) dabei bewusst überprüfen, ob und wie stark die Gedanken, Gefühle und Handlungen psychotisch sind. Wenn ich zum Beispiel zu Hause plötzlich einen lauten Knall höre und daraufhin für einen kurzen Moment Angst verspüre, halte ich das Geschehen für einen Moment inne und fasse innerlich zusammen, was passiert ist: Der Knall kam plötzlich, die Quelle war offensichtlich die benachbarte Baustelle. Es ist in Ordnung, dass ich einen Moment lang Angst hatte, und jetzt keine mehr habe, weil von der Baustelle keine Gefahr ausgeht. Ich kann mich jetzt wieder entspannen, denn ich bin nicht psychotisch.
Das heißt, ich mache mir die aktuellen Prozesse in meinem Kopf bewusst, sowohl Gedanken als auch Gefühle, und den Kontext, in dem sie entstanden sind. Auf diese Weise grenze ich die Gedanken, die Gefühle und den Kontext innerlich für mich ein, was mir Sicherheit gibt, und ich kann das, was mir bewusst geworden ist, loslassen. Eine solche kognitive Übung kann sehr schnell in einem Augenblick abgeschlossen werden. Nach jahrelanger Übung geschieht dies bei mir meist automatisch, und die Wiederholung der Übung hat mir zuverlässig gezeigt, dass sich psychotische Frühsymptome gezielt zurückbilden lassen. Ich bezeichne die Wirkung dieser Übung als meinen redundanten mentalen Filter, im Gegensatz zum mentalen Hauptfilter, mit dem jeder Mensch ausgestattet ist und automatisch Informationen sortiert und filtert. Wenn mein mentaler Hauptfilter Anzeichen einer Störung zeigt, erkenne ich dies mit meinem redundanten mentalen Filter und kann den Hauptfilter sozusagen reparieren.
Resilienter zu werden bedeutet für mich also auch, wieder mehr Selbstkontrolle und -verantwortung zu erlangen. Ich muss die Kontrolle über und die Verantwortung für meine eigenen Gedanken, Gefühle und Handlungen zurückgewinnen, die sich – ausgelöst und verstärkt durch die Psychosen – verselbständigt haben. Es gilt, das Kreisen der Gedanken, Gefühle und Handlungen um den eigenen Wahn und andere psychotische Symptome zu durchbrechen, ihre Chronifizierung aufzuhalten und sie zurückbilden zu lassen. Ich glaube, dass Menschen, bei denen eine Schizophrenie diagnostiziert wurde, umso weniger für Stress und Psychosen anfällig werden, je intakter, selbstkontrollierter und -verantworteter das eigene Ich wird. Solche Erfahrungen der Recovery und Resilienz mache nicht nur ich, sondern auch mein Mann. Mein Mann hat ebenfalls Erfahrung mit mehrfachen Psychosen, lebt bereits im 13. Jahr frei von Psychopharmaka und dem psychiatrischen Versorgungssystem. Mein Mann geht dabei seinen individuellen Weg, der sich von meinem individuellen Weg unterscheidet.
Aufgrund dieser sich häufenden persönlichen Beobachtungen fällt es mir schwer zu verstehen, warum bis heute die Forschung zur Schizophrenie den Fokus so stark auf die Genetik setzt (4), warum die Versorgung betroffener Menschen vor allem mit Neuroleptika erfolgt (5) und warum das Wissen und die gelebten Erfahrungen der betroffenen Menschen selbst kaum dabei berücksichtigt werden. Wenn wir eine erhöhte Anfälligkeit für Stress und Psychosen haben, dann hat das immer Ursachen, die so individuell sind wie wir selbst. Um eine Besserung oder (Teil-)Heilung zu erreichen, ist es notwendig, Versorgungsstrukturen zugänglich zu machen und die Ursachen individuell zu ermitteln, damit wir als Betroffene gemeinsam mit Psychiater:innen, Therapeut:innen und anderen Fachkräften im Gesundheitswesen daran arbeiten können. Das Ziel jeder Therapie sollte sein, dass wir möglichst selbstständig unseren eigenen Weg im Leben beschreiten können. Ich bin davon überzeugt, dass Menschen umso weniger psychische Probleme haben werden, je mehr sie so wahrgenommen und wertgeschätzt werden, wie sie sind und sein wollen.
Eine Übermedikation mit Neuroleptika und Psychopharmaka im Allgemeinen kann die echten Ursachen von psychischen Problemen und Erkrankungen verschleiern, eine echte Heilung der Betroffenen verhindern und echtes soziales Miteinander zerstören. Wir sind als Menschen und Lebewesen auf der Erde alle aufeinander angewiesen. Körperlich, intellektuell und emotional. Daher braucht es die Bereitschaft von uns allen, voneinander und miteinander auf Augenhöhe zu lernen, eine resiliente Gemeinschaft zu bilden und gemeinsam zu leben.
Referenzen:
(1) …postdocnet.mpg.de/mental-health-awareness-week-2022.html
(2) …ema.europa.eu/en/medicines/human/EPAR/abilify
(3) von Peter, S. et al. Dialogue as a Response to the Psychiatrization of Society? Potentials of the Open Dialogue Approach. Frontiers in Sociology 6 806437 (2021).
(4) Trubetskoy, V. et al. Mapping genomic loci implicates genes and synaptic biology in schizophrenia. Nature 604 (7906) 502 (2022).
(5) Correll U.C. et al. Systematic literature review of schizophrenia clinical practice guidelines on acute and maintenance management with antipsychotics. Schizophr 8 5 (2022).Kurz über mich:
Mowa wuchs in Japan, Deutschland und England auf und fühlt sich in einem internationalen Umfeld am wohlsten. Ihre Erfahrungen mit Psychosen und Übermedikation haben sie zu einer neuen Perspektive auf das Leben geführt. Ihre Interessen an Wissenschaft und Kunst helfen ihr sehr, da sie ihre Gedanken und Gefühle auf ihre komplementäre Weise anregen und klären. Mowa hat kürzlich an der Podiumsdiskussion „Mind (re) set: Stigma überwinden!“ teilgenommen.
(67 Wörter)
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Diese Antwort wurde vor 2 Jahren, 7 Monate von
Mowa geändert.
25/01/2023 um 17:46 Uhr #264630Ich hätte mir echt gewünscht @Molly, dass meine früheren Psychiater:innen und die Psychiatrien, in denen ich behandelt wurde, mich bei meinen Reduktionen und Absetzversuchen unterstützt hätten!
Im Gegenteil, es wurden mir Steine in den Weg gelegt, z.B. keine Unterstützung bei Reduktionen, geschweige denn beim Absetzen, Androhung der Bestellung eines gesetzlichen Betreuers, wiederholte Nahelegung von Depotspritzen, usw.
Meine professionelle Unterstützung musste ich aktiv erkämpfen, indem ich mich von diesen Psychiater:innen losgelöst habe und einen Psychiater und einen Psychotherapeuten selbst ausgesucht habe, die mich bei meinem Weg der Recovery mit niedrigstmöglichen Psychopharmakadosen auf Augenhöhe begleiten wollten.
Einen solchen Konflikt mit konservativen Psychiater:innen wird es kaum geben, solange Betroffene bereit sind, die „therapeutisch wirksamen“ NL-Dosen einzunehmen
Mit meinem Posting meinte ich eher, dass ich es mir nicht leisten kann, durch das Weglassen des Medikamentes instabil zu werden. Ich muss funktionieren, um mir mein Leben, so wie es jetzt ist, erhalten zu können.
Ja, das hatte ich auch genauso verstanden.
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Diese Antwort wurde vor 2 Jahren, 7 Monate von
Mowa geändert.
26/01/2023 um 3:21 Uhr #264695Vielen Dank liebe Doris!
Leider erscheinen jetzt wieder leere Seiten in meinem Blog, aufgrund eines Fehlers im Beitragszähler der Forensoftware. Daher werde ich Teil 2 meines Blogs hier schließen.
Hier geht es weiter zu „Notizen von Mowa – Teil 3“:
https://schizophrenie-online.com/forums/Thema/notizen-von-mowa-teil-3/ -
Diese Antwort wurde vor 2 Jahren, 7 Monate von
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AutorBeiträge
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