Zwiegespräche über Zweideutigkeiten: Identität im Zwiespalt

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    Folgend ein ausformuliertes Referat von mir, dass zum titelgebenden Thread der “Startschuss” sein soll, sein darf:

    Das Begehren in der Sprache:

    Butlers Subversive Körperakte im Kontext psychoanalytischer und poststrukturalistischer Theorien

    Judith Butlers Konzept der “Subversiven Körperakte” steht im Zentrum eines komplexen theoretischen Geflechts, das Sprache, Begehren und Identität miteinander verbindet. Im Rahmen des Seminars “Das Begehren in der Sprache” lässt sich ihr Ansatz als transformative Weiterentwicklung früherer psychoanalytischer und strukturalistischer Theorien verstehen, die grundlegende Annahmen über Identität, Geschlecht und Subjektivität in Frage stellt.

    Der theoretische Rahmen: Von Freud zu Butler

    Freuds Unbehagen und das kulturelle Gesetz

    Sigmund Freuds “Das Unbehagen in der Kultur” bildet einen wichtigen Ausgangspunkt für das Verständnis der Spannung zwischen individuellen Trieben und kulturellen Anforderungen. Freud beschreibt die Kultur als “eigenartigen Prozess, der über den Menschen abläuft“ und durch die Internalisierung des “väterlichen Gesetzes” mittels des Ödipuskomplexes wirksam wird. Die daraus resultierende Sublimierung von Trieben erzeugt ein fundamentales Unbehagen, das die menschliche Existenz prägt. Freud sieht in diesem Prozess gleichzeitig eine zivilisatorische Notwendigkeit:

    “Alles, was die Kulturentwicklung fördert, arbeitet auch gegen den Krieg”.

    Diese Perspektive etabliert bereits eine grundlegende Spannung zwischen körperlichem Begehren und symbolischer Ordnung, die später von Lacan und Butler aufgegriffen wird.

    Lacans Trias und der Namen-des-Vaters

    Jacques Lacan erweitert Freuds Konzeption durch seine einflussreiche Trias des Imaginären, Symbolischen und Realen. Im Zentrum seiner Theorie steht der “Namen-des-Vaters” (Nom-du-Père), ein

    “Signifikant, der die Konsistenz der Gesetze der symbolischen Ordnung garantiert”.

    Dieser Signifikant funktioniert als strukturierendes Prinzip der symbolischen Ordnung und reguliert das Begehren des Subjekts.

     

    Lacan betont, dass der Begriff nicht wörtlich zu verstehen ist:

    “Der Vater hat keinen Eigennamen. Dies ist keine Figur, dies ist eine Funktion. Der Vater hat ebenso viele Namen, wie sie [, d. h. die Funktion,] Träger hat”.

    Die väterliche Funktion kann von verschiedenen Personen oder Institutionen übernommen werden, die als Repräsentanten des Gesetzes fungieren.

    Die “Verwerfung” dieses fundamentalen Signifikanten führt nach Lacan zur Psychose – eine radikale Form des Bruchs mit der symbolischen Ordnung, die Butler später in ihrer Konzeption subversiver Praktiken produktiv umdeuten wird.

    Kristevas semiotische Revolution

    Julia Kristeva entwickelt in ihrer Theorie eine bedeutsame Unterscheidung zwischen dem Semiotischen und dem Symbolischen.

    Sie erweitert “die Sprache um die semiotischen paraverbalen Zeichensysteme […], indem sie die Bedeutung der Stimme, des Klangs (Prosodie/Musikalität) in der Sprache betont“.

    Das Semiotische wird mit dem Weiblichen, Mütterlichen und Poetischen assoziiert, während das Symbolische die männliche Dimension der Sprache repräsentiert.

    Kristevas Konzept der Chora, das im Seminar mit “sowohl als auch” bzw. “weder – noch” in Verbindung gebracht wird, bezeichnet einen vormythischen Raum, in dem Bedeutung entsteht, jedoch noch nicht durch binäre Oppositionen strukturiert ist. Ihre “Semanalyse” untersucht den Prozess der Bedeutungsentstehung und eröffnet damit Möglichkeiten, die binäre Struktur der Sprache zu überwinden.

    Judith Butlers subversive Körperakte

    Die Performativität des Geschlechts

    In “Das Unbehagen der Geschlechter” (Gender Trouble) entwickelt Butler ihre revolutionäre These, dass Geschlecht nicht durch eine vordiskursive biologische Realität begründet wird, sondern performativ hervorgebracht wird. Sie hinterfragt dabei die bis dahin gängige Unterscheidung zwischen biologischem Geschlecht (sex) und sozialem Geschlecht (gender).

    Ausgehend von Simone de Beauvoirs berühmtem Satz “Man wird nicht als Frau geboren, man wird es” führt Butler aus, “dass auch das ‘Körpergeschlecht’ (sex) diskursiv konstruiert wird“. Die Kategorisierung in “männlich” und “weiblich” ist demnach “ein diskursiv gebildetes Konstrukt, das eine angebliche, natürlich-biologische Tatsache zum Vorwand nimmt, Herrschaft und Macht auszuüben”.

    Butler betont die prozesshafte Natur der Geschlechtsidentität: “Die Geschlechtsidentität ist ein komplexer Sachverhalt, dessen Totalität ständig aufgeschoben ist, d.h., sie ist an keinem gegebenen Zeitpunkt das, was sie ist.” Diese Konzeption steht im Widerspruch zur “Logik der Identität (A=A)” und der “Substanz-Attribut-Struktur”, die Butler mit Nietzsche kritisiert.

     

    Subversive Strategien und Körperakte

    Butlers Konzept der subversiven Körperakte setzt genau an diesem Punkt an. Wenn Geschlecht performativ hervorgebracht wird, dann eröffnet dies die Möglichkeit für subversive Wiederholungen und Verschiebungen, die die vermeintliche Natürlichkeit und Notwendigkeit heteronormativer Geschlechterrollen untergraben.

    In ihrer “Auseinandersetzung mit Julia Kristevas Thesen zur Mütterlichkeit” entwickelt Butler ihre eigene Position zur Subversion des Geschlechterregimes. Anders als Kristeva, die das Semiotische als einen vormythischen, mütterlichen Raum konzipiert, betont Butler die diskursive Konstruktion aller Geschlechterpositionen.

    Die subversiven Körperakte zielen nicht auf die Etablierung neuer, “authentischerer” Identitäten ab, sondern auf die Offenlegung des konstruierten Charakters aller Identitäten. Butler schlägt vor, “nicht neue Möglichkeiten, sondern bisherige neu zu erzählen”, insbesondere dort, “wenn das Gesetz sich gegen sich selbst wendet”.

    Zwischenleiblichkeit und die Grenzen des Subjekts

    Das Problem der Erfahrung und des Körpers

    In der philosophischen Tradition besteht ein grundlegendes Problem zwischen Erfahrung und Verstand, wie es in der Formulierung “Es gibt nichts im Verstand (intelligibles), was nicht vorher in den Sinnen war” (Hume) zum Ausdruck kommt. Diese empiristische Position wird durch die idealistische Gegenposition ergänzt, wonach “die Empirie […] durch die Ideen bezeichnet” und konstruiert wird.

    Das Konzept der “Zwischenleiblichkeit” bietet einen Ausweg aus dieser Dichotomie. Dieses phänomenologische Konzept beschreibt, wie “das Fleisch […] die Körper durchdringt, [sich] jedoch keinesfalls nur auf eine materielle Ebene [beschränkt]”. Der eigene Leib ist “berührender und berührter Leib” zugleich, wodurch sich “eine Verflechtung zwischen den einzelnen Leibern” ergibt.

    Diese Verflechtung stellt die cartesianische Trennung von Körper und Geist in Frage und eröffnet die Möglichkeit eines “Zwischenraums”, der weder rein materiell noch rein geistig ist. Merleau-Ponty beschreibt den Leib als “Nullpunkt der Orientierung”, von dem aus und durch den wir die Welt wahrnehmen.

    Das Double Bind und die ursprüngliche Zwiespältigkeit

    Das Konzept des “double bind” (Doppelbindung) beschreibt “eine spezifische Kommunikations- und Beziehungssituation, die eine unausweichlich paradoxe Wirkung hat“.

    In einer solchen Situation wird man “mit einer Mitteilung bzw. Aufforderung konfrontiert, die aus sich gegenseitig ausschließenden Bestandteilen besteht”.

    Diese Erfahrung des “doppelt gebunden” Seins spiegelt die “ursprüngliche Zwiespältigkeit” wider, die im Seminar als grundlegende Eigenschaft von Lebensformen beschrieben wird. Die Unmöglichkeit, “zugleich eins und zwei [zu] werden”, ohne dabei “irre [zu] werden”, verweist auf die fundamentale Spannung, die der menschlichen Existenz innewohnt.

    Triangulierung und Entwicklung des Selbst

    Die frühe Triangulierung

    Das Konzept der Triangulierung spielt eine zentrale Rolle für das Verständnis der psychischen Entwicklung. Es

    “beinhaltet, dass das Kind eine Beziehung zu Vater und Mutter gleichzeitig erkennt und unterhält und zugleich akzeptiert, dass die Eltern eine Beziehung unter- und zueinander haben”.

    Ernest Abelin hat bestätigt,

    “daß sich das Kleinkind spontan schon im ersten und besonders anfangs des zweiten Lebensjahres gleichzeitig an seine Mutter und an seinen Vater bindet. Dabei “wird der Vater deutlich als Mann unterschieden, wirkt irgendwie a priori mehr positiv anregend und hat auch mehr Autorität als die Mutter”.

    Das Ergebnis eines

     “gelungenen und vollständigen Prozesses der Triangulierung sind ambivalente Repräsentanzen von Vater, Mutter, dem eigenen Selbst und der wechselseitigen Beziehungen zwischen allen drei Polen“.

    (Zitat aus: “Triangulierung aus psychoanalytischer Sicht und die kunsttherapeutische …”)

    Dies bildet die Grundlage für die Autonomieentwicklung, verstanden als “Prozess des menschlichen Selbstständigwerdens, der Menschen befähigt, das eigene Leben unabhängig von anderen zu gestalten”

    Jenseits der heteronormativen Entwicklung

    Butlers Kritik setzt genau an dem Punkt an, an dem die traditionelle Psychoanalyse ein “Gelingen” der Entwicklungsphasen mit einer heterosexuellen Entwicklung gleichsetzt. Sie hinterfragt die These, dass die “paranoid-schizoide Position” und die “depressive Position” notwendigerweise zu einer heterosexuellen Identität führen müssen.

    Stattdessen verweist Butler auf die “Melancholie bei den strikt heterosexuell ausgerichteten Frauen und Männern” – eine Trauer um verworfene homosexuelle Bindungen, die im Prozess der Geschlechtsidentifikation geleugnet werden müssen.

    Schlussbetrachtung: Subversion und Verantwortung

    Butlers Konzept der subversiven Körperakte wirft die grundlegende Frage auf, wie eine Veränderung der bestehenden Ordnung möglich ist. Im Anschluss an Foucault fragt sie, wie sich “anders denken” lässt.

    Die Antwort liegt nicht in der Erschaffung völlig neuer Möglichkeiten, sondern im “Wiedererzählen” und “Durcharbeiten” bestehender Praktiken. Dies bedeutet, die herrschenden Diskurse gegen sich selbst zu wenden und ihre Widersprüche offenzulegen.

    Das im Seminar zitierte Schlusswort bringt diese ethische Dimension zum Ausdruck:

    ” […]es ist natürlich eine Qual, aber auch eine Chance : die Chance, angesprochen, gefordert zu werden, an das gebunden zu werden, was man nicht selbst ist, aber auch bewegt, zum Handeln, zu unseren eigenen, wieder anderen geltenden Anreden veranlasst zu werden und so das selbstgenügsame, als Besitz verstandene >Ich< hinter sich zu lassen. Wenn wir von hier aus sprechen und Rechenschaft zu geben versuchen, werden wir nicht verantwortungslos sein, und wenn doch, so wird man uns bestimmt vergeben.”

    Judith Butler

    In dieser Formulierung wird deutlich, dass Butlers Ansatz nicht nur eine theoretische Kritik bestehender Geschlechternormen darstellt, sondern auch eine ethische Position artikuliert. Die Subversion binärer Geschlechterverhältnisse ist demnach kein Selbstzweck, sondern Teil eines breiteren Projekts der Verantwortung gegenüber anderen und der Überwindung eines selbstgenügsamen Identitätsbegriffs.

     

    Fazit: Das Begehren in der Sprache als transformative Kraft

    Das Konzept der subversiven Körperakte von Butler kann als eine produktive Weiterentwicklung früherer Theorien des Begehrens innerhalb der Sprache betrachtet werden. Indem sie die performative Dimension von Geschlecht und Identität hervorhebt, eröffnet sie Möglichkeiten der Subversion, die über die traditionellen psychoanalytischen und strukturalistischen Ansätze hinausgehen.

    Die Triangulierung, die in der traditionellen Psychoanalyse als Weg zur stabilen (heterosexuellen) Identität verstanden wird, erscheint in Butlers Theorie als ein Prozess, der stets offen und unabgeschlossen bleibt. Die “ursprüngliche Zwiespältigkeit” der menschlichen Existenz wird nicht aufgehoben, sondern als produktive Quelle der Transformation genutzt.

    In diesem Sinne lässt sich das Begehren in der Sprache als eine transformative Kraft verstehen, die die scheinbar natürlichen Grenzen von Identität und Geschlecht kontinuierlich verschiebt und neu definiert. Butlers subversive Körperakte sind somit nicht nur eine theoretische Intervention, sondern eine praktische Anleitung für eine Politik der Transformation, die das Potenzial hat, die bestehenden Machtverhältnisse zu verändern.

     

    :rose:

    • This topic was modified 1 Tag, 16 Stunden ago by kadaj.
    #399218

    Sehr interessant – danke


    wir können alle nicht wissen, wer wir sind …

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