Liebend schweigende Liebe schweigt. Schweigend. Liebend

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    Die Stille selbst

    Andenken der Stille

    …als Würde, „ich-mich-lieben“

    1. Totenstill, klar Dein Blick zurückgekehrt der Heimat

    Es gibt Momente, in denen die Liebe nicht spricht, sondern nur: atmet.

    Ich sehe dich, wie man einen Ort erblickt, nachdem man lange fort war—

    nicht mit Jubel, sondern mit dieser stillen Erkenntnis, dass das, was wir suchten, längst in uns war.

    Dein Blick: totenstill.

    Nicht leblos—

    sondern durchsichtig wie Eis,

    das Sonne hält, ohne zu schmelzen, weil die Kälte Klarheit ist.

    „Zurückgekehrt der Heimat“—diese Worte sind keine Ankunft.

    Sie sind ein Sich-Erinnern an das Ankommen. Das Präteritum spricht: Es war schon immer so. Du bist nicht zurückgekehrt zu der Heimat.

    Du bist in die Heimat eingekehrt, die dich nie losließ.

    Ich denke das und weiß:

    Diese Liebe ist kein Versprechen.

    Sie ist eine Wahrheit, die nicht trösten will, sondern nur: anerkennen.

     

    II.    Das Schweigen als Heimat

    Wenn ich dich denke—

    in dieser Stille, die groß genug ist für zwei—verstehe ich erst, was Heimat bedeutet:

     

    nicht ein Ort,

    sondern ein Innehalten im Ungesagten.

     

    Dein Blick war immer klarer als Worte. Worte wollen etwas.

    Worte fordern.

    Worte machen unruhig.

     

    Aber dieser Blick—dieser totenstille Blick—er ruht.

    Er sagt: Hier ist genug.

     

    Hier ist genug von Schmerz. Hier ist genug von Ringen.

    Hier ist genug von der Suche nach einem Namen für das Namenlose.

     

    Und darin liegt die grausame Schönheit:

    Dass Zurückgekehrtsein nicht bedeutet, angekommen zu sein. Es bedeutet nur: Aufgehört zu fliehen.

     

    III.    Wenn Liebe ewig schweigt

    Wenn Liebe ewig schweigt, verliert sie nicht ihre Stimme. Sie verliert ihre Stimme-Lüge.

    Denn Liebe, die spricht, muss rechtfertigen, überreden,

    verfallen in die Sprache der Zeit, die alles zu schnell macht.

    Aber Liebe, die schweigt—

    heilige Liebe—

    sie behält das Erste, das Urferne.

     

    Wenn Liebe ewig schweigt, dann bedeutet dies nicht Trauer. Dann bedeutet dies: Amen.

    Das Wort, das kein Wort ist.

    Der Punkt, der alles Gesagte heilt. Die Stille, die kein Echo mehr wirft.

     

    Und ich bin in diesem Schweigen bei dir—nicht als Vertrauensvoller,

    nicht als Erwartender, sondern als Lauschender.

    Lauschend auf das, was zwischen deinem totenstillen Blick und diesem ewig schweigenden Herzen

    lebt:

     

    Ein Zwischenraum,

    der größer ist als alle Worte der Welt.

     

     

    IV.   Die Rückkehr im Erinnern

    Wenn ich dich denke—

    und nur denken ist möglich,

    weil alle anderen Verben schuldig machen—

     

    dann erkenne ich:

    Du kehrst nicht zurück.

    Du bist bereits angekommen.

     

    Nicht du kommst an.

    Die Heimat kommt an in dir:

    als Stille, die sich erinnert,

    als Blick, der klar ist ohne zu sehen,

    als Wirklichkeit, die so real ist, dass sie unsichtbar wird.

     

    Totenstill—

    dieses Wort sagt nicht: ohne Leben.

    Es sagt: mit Leben, das keine Laute mehr braucht.

     

    Wie ein Herz, das so lange pochte,

    dass es jetzt nur noch rhythmisch existiert—

    nicht als Drama, sondern als Takt der Erde selbst.

     

     

    V.   Das Ewig als Geschenk

    „Wenn Liebe ewig schweigt“—nicht: falls sie schweigt.

    Nicht: solange sie schweigt.

     

    Wenn: als Bedingung der Möglichkeit. Als würde ich sagen:

    „Wenn Wasser nass ist“ oder „Wenn der Himmel hoch ist“.

     

    Liebe, die spricht, wird verletzt. Liebe, die fragt, wird verunsichert.

    Liebe, die verspricht, wird zur Sklaverei der Erfüllung verdammt.

     

    Aber Liebe, die ewig schweigt—diese Liebe kann nicht fallen.

    Sie ist bereits der Grund.

     

    Und dies ist das Geschenk, das ich dir denke: Nicht dass ich dich liebe

    sondern dass ich es erkannt habe:

     

    Wir brauchen nicht zu sprechen. Wir brauchen nicht anzukommen. Wir sind bereits in der Rückkehr.

     

    VI.    Totenstill und ewig: Das Paradox

    Wie kann etwas zugleich:

     

    • totenstill (endlich, begrenzt, materiell)
    • und ewig (unbegrenzt, geistig, zeitlos) sein?

    Nur wenn man versteht:

    Das Ewige lebt nicht in der Zeit.

     

    Es lebt in der Tiefe der Stille.

     

    Der Blick, der totenstill ist, berührt bereits das Ewige. Nicht weil er lange dauert,

    sondern weil er außerhalb von Dauer existiert.

     

    Ein Moment, der so real ist, dass er nicht vergeht—er wird nur erinnert.

    Und Liebe, die ewig schweigt,

    ist nicht eine Liebe, die für immer stumm bleibt.

    Sie ist eine Liebe, die ihre Sprache in der Stille gefunden hat.

     

     

    VII.    Der Nacken, verbeugt

    Du warst es nicht, der die Hoffnung aufgab.

    Die Hoffnung fiel ab wie ein altes Kleid.

     

    Und nun:

    dieser gebeugte Nacken ist nicht Resignation.

    Er ist Gebet ohne Worte.

     

    So beugst du dich nicht vor dem Schmerz, sondern zu ihm hin—

    wissend, dass Beugung nicht Unterwerfung ist, sondern Einigung mit dem Notwendigen.

    Der Nacken, der sich beugt, sagt zur Welt:

    „Ich erkenne dich an.

    Ich kämpfe nicht mehr.

    Ich nehme an.“

     

    Und dies ist größere Liebe als Aufbegehren: Die Liebe, die sich ergibt

    nicht weil sie verloren hat, sondern weil sie verstanden hat.

     

    VIII.    Schwarz das Tal

    Schwarz ist das Tal nicht aus Trauer. Schwarz ist es aus Tiefe.

    In jedem schwarzen Tal ruht der Grund aller Dinge:

    Wasser, Erde, die Wurzeln der Bäume, die stille Arbeit des Werdens.

    Schwarz ist die Farbe der Verborgenheit.

    Und Verborgenheit ist die Heimat aller Wahrheit.

     

    Wenn ich dich denke im schwarzen Tal, dann denke ich dich nicht als verloren. Ich denke dich als gesammelt

    bei den Wurzeln aller Dinge, bei der Quelle, die nie versiegt,

     

    bei der Heimat, die dich ruft im Schweigen der Tiefe.

     

    IX.    Sich zu binden (zweimal)

    „Sich zu binden, sich zu binden“—

     

    Die Wiederholung ist nicht Stottern. Sie ist Liturgie.

    Das Rosenkranzgebet der Liebe. Das doppelte Amen.

    Sich zu binden—

    das erste Mal: zu sich selbst.

    Das zweite Mal: zu allem anderen.

     

    Sich selbst binden bedeutet: Verantwortung. Das andere binden: Vertrauen.

    Und in dieser doppelten Bindung geschieht das Unfassbare:

    Du wirst frei

    nicht trotz der Bindung, sondern durch sie.

    Wer sich wirklich bindet, kennt die Wahrheit:

    Freiheit ist nicht Abwesenheit von Bindung. Freiheit ist Wahl der Bindung.

     

    X.    Hinein sich finden

    „Hinein sich finden“—

     

    nicht: sich verlaufen im Labyrinth.

    Sondern: hinein-gehen in den Ort des Findens.

     

    Diese Präposition—hin-ein

    sagt alles über die Liebe, die ich dir denke:

     

    Sie ist nicht Rückwärts. Sie ist nicht Stillstand.

    Sie ist ein Gehen in die Tiefe.

     

    Sich finden nicht oben, nicht im Licht, sondern hinein, im schwarzen Tal,

    in der Tiefe des Schweigens, wo das Wahre wohnt.

    Und du findest dich dort—nicht als Projekt,

    nicht als Suche,

    sondern als Ankunft bei dir selbst.

     

     

    XI.    Das enge Herz, pochend

    Das enge Herz—nicht eng aus Enge,

    sondern eng aus Präzision.

     

    Ein großes Herz verschleudert. Ein enges Herz konzentriert.

    Es pocht nicht wild.

    Es pocht: regelmäßig, wahr, unverrückbar.

     

    Und dieses Pochen ist der Rhythmus der Heimat. Das Geräusch, das sagt: Noch da. Noch da. Noch da.

    Nicht: Ich liebe dich.

    Sondern: Ich bin. Ich bin. Ich bin.

     

    Und dies ist die tiefere Liebe.

     

     

    XII.    Bricht: Der Punkt der Umkehr

    „das enge Herz, pochend — bricht:“ Der Doppelpunkt.

    Nicht der Punkt (der beendet), sondern der Doppelpunkt (der öffnet).

    Das Herz bricht nicht im Sinne des Scheiterns. Es bricht im Sinne der Offenbarung:

    Das harte Eis,

    das schöne Panzer fällt.

     

    Und darunter: rotes Feuer.

     

    Nicht Blut.

    Nicht Wunde.

    Sondern: Ursprüngliches Leben.

     

    Das, was unter der totenstillen Klarheit schlief, erwacht jetzt—

    nicht laut,

    sondern als leises Glühen.

     

     

    XIII.    Rotes Feuer

    Feuer ist nicht Aggression. Feuer ist Verwandlung.

    Das Rote des Bluts wird zum Roten des Lichts. Das Dunkle wird durchglüht.

    Wenn ich dich denke,

    und dein Herz bricht und Feuer entlässt, dann geschieht keine Vernichtung.

    Es geschieht Alchemie.

     

    Das Blei der Geduld wird zu Gold der Erfüllung. Nicht weil es verdient wird,

    sondern weil es die innere Natur aller Dinge ist.

     

    Rot wie die rote Lampe, unter der du die Ferkel wärmtest. Rot wie die Morgenröte.

    Rot wie die Liebe, die nicht mehr schweigt—sondern glüht.

     

    XIV.   Erstes Licht

    „Erstes Licht“—

     

    nicht: Fortsetzung, Wiederholung, Alltag. Sondern: Genesis.

    Als wäre die Welt eben erschaffen.

    Als hätte das Licht zum ersten Mal einen Namen. Als sähe das Auge zum ersten Mal.

     

    Und dieser erste Blick ist der Blick zwischen dir und mir: Wo weder Alter noch Gewöhnung noch Verfall etwas gilt, nur die ungebrochene Gegenwart des Erkennens.

    Erstes Licht heißt auch: Hoffnung.

    Nicht die billige Hoffnung, die enttäuschbar ist, sondern die ontologische Hoffnung,

    dass es überhaupt Licht gibt.

     

     

    XV.   Wenn Liebe ewig schweigt (der Rückkehr)

    Nun kommen wir zurück zum Ende, das Anfang ist: „Wenn Liebe ewig schweigt“—

    Ich verstehe dies jetzt nicht als Trauer. Ich verstehe dies als Erfüllung.

    Liebe, die spricht, versucht, die Liebe zu verteidigen. Liebe, die fragt, zweifelt.

    Liebe, die verspricht, verrät schon die Fragilität ihrer Existenz.

     

    Aber Liebe, die ewig schweigt, die ist größer als alle Worte, die ist klarer als alle Taten,

    die ist echt wie Stein, wie Wasser, wie Erde.

     

    Und wenn ich dich in diesem Schweigen denke—dann denke ich dich endlich an deinem Ort, endlich bei deiner Heimat,

    endlich mit dem Blick, der totenstill ist und doch sieht.

     

     

    XVI.    Coda: Die Andacht

    Was bleibt, wenn Liebe ewig schweigt?

     

    Nur dies:

     

    Eine Präsenz, die nicht fordert. Eine Nähe, die nicht erstickt.

    Ein Wissen, dass wir beide bereits angekommen sind—nicht ankommen werden,

    sondern dass wir längst hier sind,

     

    in der schwarzen Tiefe des Tales, unter der roten Lampe,

    im Rhythmus eines Herzens, das sich selbst gefunden hat.

     

    Totenstill, klar Dein Blick—zurückgekehrt der Heimat.

    Und ich denke dich dort. Nicht mit Leidenschaft. Sondern mit Andacht.

    Die Andacht derjenigen, die weiß:

    Manche Lieben sind nicht dazu da, erfüllt zu werden. Dafür sind sie da, um die Wahrheit zu sagen.

    Und die Wahrheit ist:

     

    Du bist bereits angekommen. Das Schweigen ist bereits erfüllt.

    Das Feuer unter der Asche leuchtet ewig—auch wenn niemand es sieht.

    Besonders dann.

     

     

    Schlusswort

    Diese Andacht war nicht für dich geschrieben. Sie war für mich geschrieben—

    um zu lernen, dich zu denken, wie man einen heiligen Ort denkt: nicht um ihn zu betreten, sondern um ihn zu schützen,

    in der Stille meines Herzens, für immer.

    Totenstill. Klar. Heimat.

    Ewig schweigend.

     

    Das ist alles, was ich dir schenken kann: Die Andacht einer Liebe,

    die gelernt hat, nicht zu sprechen.

     

     

    Ende

     

    „Wenn Liebe ewig schweigt—dann ist alles bereits gesagt.“

     

    — Die Stille selbst

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    #421791

    Nichts.IST – Wenn Sprache an ihre Grenzen stößt

    Eine hermeneutische Reise durch die Fragmentierung des Seins

    Ein Blogbeitrag über hermetische Lyrik zwischen Heidegger, Celan und der Unmöglichkeit zu sprechen

    Nichts.
    IST
    Losungsworte
    Schwer-zu-tragend
    Mutterherz
    Seinem
    Dienend
    Liebt, Ich ein Land
    Wahrheit
    Verloren
    Lagst Du Nah
    Zwischen
    Zungenspitze
    und
    Schlag
    um
    Schlag
    uns´rer
    Herzen
    Grenzen.
    Los- Auf Auf

    Dieses Gedicht – „Nichts.IST“ – konfrontiert uns mit einer Sprache, die sich selbst zerbricht, um das Unsagbare zu sagen. Es steht in der Tradition Paul Celans, dessen „Todesfuge“ uns lehrte, dass nach Auschwitz Dichtung nur noch als Zeugnis der Sprachkrise möglich ist. Doch was geschieht, wenn die Worte nicht mehr tragen? Wenn sie „schwer-zu-tragend“ werden und die Wahrheit „verloren“ geht?

    Die Form als Philosophie: Parataxe und das fragmentierte Sein

    Das Gedicht verzichtet radikal auf jede hypotaktische Unterordnung. Keine kausalen Verknüpfungen, keine logischen Hierarchien – nur parataktische Reihungen, die nebeneinander stehen wie Bruchstücke einer zerborstenen Welt. Diese Technik ist keine stilistische Willkür, sondern ontologische Notwendigkeit.

    Die parataktische Fragmentierung findet sich bereits im Expressionismus, wo sie den „Wirklichkeitsverlust“ der Moderne ausdrückte. Bei Celan wird sie zum ethischen Imperativ: Die Sprache darf nicht mehr die Illusion von Ganzheit vortäuschen. Sie muss ihre eigene Brüchigkeit ausstellen.

    In „Nichts.IST“ wird diese Brüchigkeit zum Seinsgeschehen selbst. Die typografische Inszenierung – die Trennung durch Punkt, Großschreibung, Leerzeilen – macht den Text zum visuellen Ereignis. Jedes Wort steht isoliert, umgeben von Schweigen, wie Seiendes in der heideggerschen „Lichtung“.

    Der ontologische Schock: Nichts.IST

    Die Eröffnung ist ein philosophischer Paukenschlag:

    Nichts.
    IST

    Ein Punkt trennt Negation und Affirmation. Das „Nichts“ ist hier kein bloßes Nicht-Vorhandensein, sondern der Ab-Grund, aus dem das Sein entspringt – jener Ort, den Heidegger als den „grundlosen Grund“ beschrieb, der sich jeder metaphysischen Fundierung entzieht.

    Das „IST“, typografisch isoliert und großgeschrieben, erscheint als reines Sein-Verb ohne Prädikatsergänzung. Es verweist auf die Unverfügbarkeit des Seins selbst. Sein „ist“ – aber es lässt sich nicht auf Seiendes reduzieren. Diese Spannung durchzieht das gesamte Gedicht: Zwischen Verbergung („Nichts“) und Entbergung („IST“) vollzieht sich das, was Heidegger das Ereignis nannte.

    Losungsworte / Schwer-zu-tragend: Die Last der Sprache

    „Losungsworte“ – das Wort vibriert in drei Richtungen:

    1. Militärische Parolen (Shibboleth): Worte, die Zugehörigkeit markieren und ausschließen
    2. Erlösungsworte: Theologische Verheißungen der Befreiung
    3. Los-Lösung: Die Befreiung vom Wort selbst

    Doch diese Worte sind „Schwer-zu-tragend“. Nach Auschwitz ist jedes Wort belastet mit der Schuld, dass die Sprache der Täter dieselbe war wie die der Opfer. Celan wusste: Die deutsche Sprache muss durch ihre eigene Unmöglichkeit hindurch, um wieder sprechen zu können.

    Die Sprache ist „herausgefordert“ – ein Begriff, den Heidegger für das moderne „Gestell“ verwendete, jene technologische Welterschließung, die alles zum verfügbaren Bestand macht. Auch die Sprache droht, zum Instrument degradiert zu werden. Das Gedicht widersteht dieser Instrumentalisierung, indem es die Sprache zerbricht und sie so zu ihrem Wesen zurückführt: als Haus des Seins, nicht als Werkzeug des Menschen.

    Mutterherz / Seinem / Dienend: Das chthonische Erbe

    Diese Verse bilden ein syntaktisches Rätsel. „Mutterherz“ evoziert die Mati Syra Zemlya, die slawische „Mutter Feuchte Erde“ – jene archaische Erdgöttin, die in der christlichen Theotokos nur scheinbar aufgehoben wurde.

    Das chthonische Substrat – das Dunkle, Erdhafte, Mütterliche – geht nie vollständig in die patriarchale, himmlische Ordnung („Seinem“) über. Es bleibt „dienend“, aber in dieser Dienbarkeit bewahrt es seine eigene Macht. Die Fragmentierung verhindert jede eindeutige Zuordnung: Ist das Mutterherz dienend? Oder wird ihm gedient?

    „Liebt, Ich ein Land“ – die Kommasetzung ist ungewöhnlich, fast verstörend. Sie isoliert das „Ich“ und betont die existenzielle Vereinzelung. Das „Land“ ist kein abstraktes Vaterland, sondern geosophische Verankerung: Heideggers „Wohnen“ als Grundvollzug des Daseins, die Verwurzelung im Partikularen, die zugleich nach dem Universalen sucht.

    Wahrheit / Verloren / Lagst Du Nah: Die Krise der Aletheia

    „Wahrheit / Verloren“ – zwei Worte, die die Krise der Aletheia markieren. Aletheia, die griechische Unverborgenheit, bezeichnet bei Heidegger ein Wahrheitsgeschehen, das sich zugleich zeigt und entzieht. Die Wahrheit ist nicht stabil, nicht verfügbar – sie „west“ im Wechselspiel von Entbergung und Verbergung.

    „Lagst Du Nah“ – das Du, das einmal nah war, ist verloren. Ist es Gott? Der geliebte Mensch? Es spielt keine Rolle. Entscheidend ist die Dialektik von Nähe und Ferne, die Franz Rosenzweig in seiner Offenbarungstheologie beschrieb: Gott offenbart sich, indem er den Menschen beim Namen ruft („Wo bist du?“), doch diese Offenbarung bleibt stets gefährdet, kann jederzeit wieder entzogen werden.

    Zwischen / Zungenspitze / und / Schlag: Die Schwelle

    Das zentrale Bild des Gedichts:

    Zwischen
    Zungenspitze
    und
    Schlag
    um
    Schlag
    uns´rer
    Herzen
    Grenzen.

    Die „Zungenspitze“ ist der Ort des Kusses und des Wortes – Intimität und Sprache in einem. Der „Schlag“ ist mehrdeutig: Herzschlag (Leben), Schlag als Gewalt (Tod), Schlag als Rhythmus (Poesie).

    „Schlag / um / Schlag“ – die Verteilung über drei Zeilen erzeugt einen stockenden Rhythmus, als stammle das Herz selbst. Es ist der Raum der Schwelle, die „Lichtung“, in der Sprechen und Schweigen, Intimität und Gewalt, Eros und Thanatos ineinander übergehen.

    „uns´rer / Herzen / Grenzen“ – das Apostroph in „uns´rer“ ist ein bewusster Archaismus, der die Sprache chiffriert, sie fremd macht. Die Grenze der Vereinigung wird hier nicht überwunden, sondern als unüberwindbar anerkannt. Erlösung, so suggeriert das Gedicht, liegt nicht in der Auflösung der Differenz, sondern in ihrer Anerkennung.

    Los- Auf Auf: Die dankende Kehre

    Der Schlussruf ist imperativisch, aber seltsam gebrochen:

    Los- Auf Auf

    „Los-“ evoziert erneut die Befreiung, das Loslassen. Das doppelte „Auf“ erinnert an liturgische Anrufungen (Kyrie eleison, Christe eleison), aber auch an den Aufbruch, das Sich-Erheben.

    Doch dieser Aufbruch ist kein heroischer Akt. Er ist Gelassenheit im Heideggerschen Sinne: ein Lassen, das das Ereignis empfängt, ohne es zu erzwingen. Heidegger unterschied zwischen dem „rechnenden Denken“, das plant und beherrscht, und dem „besinnlichen Denken“, das wartet und empfängt.

    „Los- Auf Auf“ praktiziert diese Gelassenheit. Es ist die dankende Kehre, die das Gegebene („Es gibt Sein“) annimmt, ohne es zu instrumentalisieren. Der Aufbruch ist zugleich ein Loslassen – eine Bewegung ins Ungewisse, die nur vollzogen werden kann, wenn man aufhört, das Sein beherrschen zu wollen.

    Dekonstruktion: Die Aporie der Sprache

    Das Gedicht dekonstruiert die Opposition von Präsenz und Absenz, Sein und Nichts. Das „IST“ behauptet Präsenz, aber das vorangestellte „Nichts“ unterminiert sie sofort. Jedes Wort steht in différance – in jenem Spiel von Verschiebung und Aufschub, das Jacques Derrida als Signatur der Sprache selbst beschrieb.

    Die „Losungsworte“ sind zugleich Befreiung und Bürde, Offenbarung und Verbergung. Sie markieren die Unentscheidbarkeit, die Derrida als das Herzstück der Dekonstruktion verstand: Es gibt keine letzte Bedeutung, keine ursprüngliche Präsenz. Die Sprache verweist immer nur auf andere Sprache, in einem endlosen Spiel.

    Doch im Unterschied zu Derrida bleibt das Gedicht an die Dimension des Ereignisses gebunden. Es geht nicht um beliebige Verschiebung, sondern um das Zeugnis eines Geschehens, das sich der Sprache entzieht und doch nur in ihr aufscheinen kann.

    Rosenzweigs Erlösung: Schöpfung, Offenbarung, Erlösung

    Das Gedicht evoziert auch Franz Rosenzweigs „Stern der Erlösung“, jenes monumentale Werk, das die drei Urworte Gottes – Schöpfung, Offenbarung, Erlösung – in eine dialogische Philosophie überführte:

    1. Schöpfung: „Mutterherz“ – die chthonische Basis, die Erde als Ursprung
    2. Offenbarung: „Lagst Du Nah“ – die Nähe Gottes, die sich ereignet und wieder entzieht
    3. Erlösung: „Los- Auf Auf“ – der eschatologische Aufbruch, der nicht verfügbar ist, sondern nur empfangen werden kann

    Die „Grenzen“ der Herzen markieren die Schwelle, an der Erlösung ansetzt – nicht als Auflösung der Differenz (wie in der idealistischen Philosophie), sondern als Anerkennung der Andersheit des Anderen.

    Synthese: Das Gedicht als Ort der Wahrheit

    „Nichts.IST“ ist ein hermetisches Gedicht – verschlossen, dunkel, widerständig. Es vollzieht die „illegitime Mischung“ von Philosophie, Theologie und Poesie, die die russische Religionsphilosophie auszeichnet. Es inszeniert das Heideggersche Ereignis als sprachliches Geschehen, in dem sich Sein und Nichts, Verbergung und Entbergung durchdringen.

    Die parataktische Fragmentierung ist kein formaler Mangel, sondern die adäquate Form für ein Denken, das die Totalität des Gestells überwinden will. Die Sprache wird nicht instrumental genutzt, sondern „gelassen“ – sie darf sein, was sie ist: Haus des Seins.

    Das Gedicht ist zugleich Zeugnis der Krise („Wahrheit / Verloren“) und Ort der Hoffnung („Los- Auf Auf“). Es praktiziert die dankende Kehre, indem es das Gegebene – die fragmentierte Sprache, die verlorene Nähe, das chthonische Erbe – annimmt und in ein neues Licht stellt.

    Es steht in der Tradition Celans, dessen Lyrik die Grenze zwischen Sagen und Schweigen, zwischen hermetischer Verschlossenheit und ethischem Zeugnis auslotet. Zugleich öffnet es sich einer philosophischen Lektüre, die Heideggers Spätwerk und Rosenzweigs Dialogphilosophie produktiv verbindet.

    Offene Enden: Los- Auf Auf

    Die letzte „Losung“ bleibt offen:

    Los- Auf Auf

    Ein Aufbruch, der zugleich ein Loslassen ist. Eine Bewegung ins Ungewisse, die nur in der Haltung der Gelassenheit vollzogen werden kann. Keine Lösung, keine Auflösung – nur das Versprechen, dass im Zwischen, zwischen Zungenspitze und Schlag, zwischen Nichts und IST, etwas geschieht.

    Ein Ereignis, das sich entzieht, während es sich zeigt.

    Eine Wahrheit, die verloren geht, während sie aufscheint.

    Ein Gedicht, das schweigt, während es spricht.

    Weiterführende Lektüre:

    • Martin Heidegger: Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis)
    • Paul Celan: Sprachgitter
    • Franz Rosenzweig: Der Stern der Erlösung
    • Jacques Derrida: Die Schrift und die Differenz

    Über diese Analyse:

    Diese Interpretation folgt einer mehrmethodischen Herangehensweise, die textimmanente, hermeneutische, dekonstruktivistische und existenzphilosophische Verfahren verbindet. Sie versteht das Gedicht nicht als abgeschlossenes Objekt, sondern als Ereignisraum, in dem sich Philosophie und Poesie, Sprache und Schweigen, Sein und Nichts begegnen – und wieder auseinandergehen.

     

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